Und ich hatte gedacht, es würde ruhig bleiben.
Als diensthabender Nachtarzt ist man ja den Ereignissen ähnlich hilflos ausgeliefert, wie ein Seemann Wind und Wetter auf seinem Schiff: Man kann sich in Notsituationen weder ehrenhaft aus dem Staub machen, noch besteht die Möglichkeit, an grundlegenden Naturereignissen viel zu verändern. Man würde sie höchstens kommen sehen, und dann mehr oder weniger geschickt darauf reagieren.
Nein, alle Vorzeichen waren eigentlich günstig gewesen. Es war weder Vollmond (wo nach Ansicht der meisten älteren und erfahrenen Kollegen immer besonders viel Unglück und Komplikationen zu erwarten wären) noch war Neumond (wo immerhin mit einer beunruhigenden Häufung Kriege im nahen Osten beginnen). Überhaupt war der Himmel heute leicht bewölkt gewesen, der Mond war Gott sei Dank gar nicht zu sehen und das Wetter freundlich und reizlos. Die Kollegin von der Ambulanz hatte zum Abschied gelächelt, was ein sicherer Hinweis darauf war, daß sie kein schlechtes Gewissen hatte. Ambulanzärzte plagt nämlich hin und wieder ein schlechtes Gewissen, wenn sie die Arbeit des Tages ausnahmsweise einmal nicht zu Ende gebracht haben. Wenn sie, in der Folge, an alle übriggebliebenen hilfesuchenden Patienten Abendtermine nach Ambulanzschluß ausgeben und aus purer Not unrealistische Vereinbarungen und Versprechungen machen, von denen außer den Patienten selbst leider nie jemand informiert ist. Nein, wahrscheinlich hatte die Kollegin diesmal keine Arbeit für mich übriggelassen. Auch auf der Akutstation der Psychiatrie hatte heute das „gute“ Schwesterteam Nachtdienst. Das „gute“ Team war im Gegensatz zum „schlechten “ dadurch gekennzeichnet, daß es alle Probleme mit unglaublicher Ruhe und Professionalität zu bewältigen vermochte und dazu überhaupt nur in ganz seltenen Ausnahmefällen die Hilfe eines Arztes benötigte. Insgeheim hatte ich manchmal den Verdacht, daß das gute Team einfach bisher viel Glück hatte oder wir als Nachtdienstärzte möglicherweise nur einen Bruchteil von dem erfahren hatten, was wir besser nicht wissen sollten. Wie auch immer, es galt an der Abteilung als günstiges Vorzeichen für eine ruhige Nacht, mit dem guten Schwesternteam zusammen Nachtdienst zu haben. Ich hatte bereits meine Runden durch die Stationen und die beleuchteten Korridore gedreht. Es war ruhig, nur ein paar Patienten rauchten noch in den Raucherzimmern, ein kurzer Streit zwischen zwei älteren depressiven Damen um ein zum Lüften geöffnetes Fenster war auch leicht zu schlichten gewesen. Ich wäre jetzt gern zuhause gewesen, ohne das bedrückende Gefühl, eine Nacht lang für das Wohlergehen all dieser Menschen verantwortlich zu sein. Es sind viele, sehr viele Menschen, die man hier im Laufe der Jahre kennenlernt, und deren Geschichten man oft noch lange mit sich trägt. Viele Geschichten sind herzzerreißend traurig, nicht wenige sind aber auch lustig – und die besten von ihnen sind beides zugleich.
Heute abend begegnet mir eine solche Geschichte, eine die traurig und lustig, tragisch und komisch, vor allem aber unvergeßlich ist. Sie handelt von zwei Menschen und acht Katzen und beginnt mit einem Anruf der Nachtschwester.
Der Anruf reißt mich aus meinen Gedanken. Die Nachtschwester informiert mich knapp, daß eine Dame mit Rettung vom Bahnhof zu uns gebracht worden sei, weil sie gedroht habe, sich vor einen Zug zu stürzen. Das ist für einen Psychiater nichts Außerordentliches, in Gedanken kann ich schon den Ablauf sehen: Nach einem klärenden Gespräch über die Ursache der Verzweiflung (meist ist es Liebeskummer oder ein Streit in der Familie) werde ich die Dame aufnehmen, sie wird hier ein, zwei Wochen bleiben, wir werden versuchen, ihr zu helfen, die Selbstmordgedanken werden in den Hintergrund treten, es werden sich Auswege finden. Nichts Ungewöhnliches also.
Schon der erste Blick ins Ambulanzzimmer belehrt mich dann aber eines Besseren. Hinter der Glastüre spielen sechs kleine Katzen auf einem Korb fangen, in dem zwei weitere, ältere Katzen schlafen. Daneben sitzt ein kleines brünettes Mädchen, etwa zehn Jahre alt, und hält den Korb fest. Zwei Rettungsleute reden auf das Mädchen ein, einer versucht, ihr den Korb wegzunehmen. Das schaut nicht nach Routine aus. Ich bin mir nicht sicher, was ich als Arzt hier soll und versichere mich noch einmal bei der Schwester, ob das der Notfall sei, zu dem ich gerade gerufen worden bin.
Nein, nein, das hätte schon alles seine Richtigkeit, meint sie, die Kleine sei die Tochter der Dame, die sich vor den Zug stürzen wollte, diese säße im Nebenzimmer, und die Katzen gehören eben auch dazu. Und im übrigen würde keiner von denen Deutsch sprechen – nur irgend so eine slawische Sprache, und ein paar Brocken Englisch. Sie hätten aber immerhin Ausweise mit, sodaß man zumindest sagen könne, wer sie seien und woher sie kommen. Ich bin erleichtert, denn es ist fast unmöglich und eine echte bürokratische Herausforderung, Menschen an einem Krankenhaus zu behandeln, die nicht mit beglaubigten Urkunden nachweisen können, daß sie geboren worden sind, wo das passierte, und welcher Name ihnen im Anschluß gegeben wurde. Also lasse ich mir die sechs (warum eigentlich sechs?) Ausweise aushändigen – und identifiziere sie in der Folge mühsam mit Hilfe meines Urlauberspanisch als wahrscheinlich echte und gültige Impfausweise für die sechs kleinen Katzen, und zwar ausgestellt von einem gewissen Dr. Mendoza y Gutierrez aus Barcelona. Die Katzen waren dort gegen Katzenschnupfen und Katzen-AIDS geimpft und zweimal ordentlich entwurmt worden, war den Papieren zu entnehmen. Natürlich ist der Informationsgewinn über deren Besitzer damit nicht der erwünschte und ich stehe fast so schlau wie davor da und weiß immer noch nicht, wer meine Patientin eigentlich ist.
Als Arzt lernt man schnell, Prioritäten in einer Notsituation zu erkennen und entsprechend zu handeln. Die immer noch namenslose, unbeglaubigte Dame, die ihrem Leben ein Ende setzen wollte, war zwar sicherlich momentan der bedauernswerteste Teil dieser gemischten Schicksalgemeinschaft, aber sie befand sich ja bereits an dem Ort, wo sie zumindest für diese Nacht sicher bleiben konnte und wo man ihr helfen würde. Wo jedoch war Platz für acht ordnungsgemäß geimpfte Katzen und ein zehnjähriges Mädchen ohne Namen? In der Akutstation der Psychiatrie sicherlich nicht! Also hatten die Katzen und das Kind absoluten Vorrang. Österreich ist ein tierliebendes Land, und das kam mir und den Katzen hier sehr entgegen. Für in Not gestrandete Tiere gibt es im allgemeinen genügend Heimplätze in jeder Stadt, mit Kost und Logis. Und sogar einen Abholdienst, der in rekordverdächtiger Zeit in Form von zwei uniformierten Feuerwehrmännern vor mir stand und die Katzen ins Tierheim brachte. Das ganze hatte nur zweier Telefonanrufe bedurft und war im Grunde viel einfacher zu organisieren gewesen, als zu befürchten war. Nicht einmal die Ausweise der Katzen hatten die Männer sehen wollen, und man hatte den Tieren auch so geglaubt, daß sie ordnungsgemäß zu Welt gekommen waren. (Lediglich das Mädchen war sehr beunruhigt und nur schwer zu überzeugen, daß die Katzen nun an einen guten Ort gebracht werden würden. Ihr Mißtrauen hatte, wie sich später herausstellen sollte, einen guten Grund).
Im Gegensatz dazu stellte es sich als sehr viel schwerer heraus, eine Unterkunft für ein zehnjähriges Mädchen zu finden. Das ist anders, als bei kleinen süßen Kätzchen. Polizei und Feuerwehr erklärten sich zunächst prinzipiell für unzuständig. Für solche Angelegenheiten gäbe es das Jugendamt (Parteienverkehr Montag bis Freitag, 9 bis12 und 13 bis 15 Uhr). „Die vom Amt“ hätten auch für in Not gestrandete kleine Mädchen im allgemeinen genügend Heimplätze in jeder Stadt, mit Kost und Logis. Bloß : Keinen Ansprechpartner nach 15 Uhr (außer einem freundlich gestimmten Anrufbeantworter) und schon gar keinen Abholdienst, wie ich leider feststellen mußte. In solch einer ausweglosen Situation zeigt sich der Vorteil eines guten Teams, und in diesem Fall konnte ich aus dem gesammelten Wissen des „guten“ Schwesternteams schöpfen, mit dem ich ja Gott sei Dank diese Nacht zusammen eingeteilt worden war. Zwar war die Sache wirklich einzigartig, und auch die älteren im Team konnten
sich an nichts Gleichartiges erinnern. Aber in einem ähnlichen Fall hatte sich schließlich herausgestellt, daß eben doch die Feuerwehr zuständig gewesen sei und auch die für den Notfall geheimgehaltene private Telefonnummer der Leiterin des Jugendamtes kannte. Die Information war richtig – und wurde nach einigen hitzigen Telefonaten zwischen Psychiatrie (durch meine Person vertreten) und Feuerwehr, Psychiatrie und Polizei, Polizei und Feuerwehr und schließlich wieder Psychiatrie und Feuerwehr letztlich bestätigt. Endlich ist das Jugendamt informiert, die überaus nette und kompetente Leiterin würde sich selbst auf der Stelle um die Angelegenheit kümmern. Endlich kann ich mit der Dame, von der ich bisher nicht mehr weiß, als daß sie sich vor den Zug werfen wollte, eine etwa zehnjährige Tochter und in Barcelona geimpfte Katzen besaß und vermutlich aus einem slawischen Land stammte, reden.
Die Dame, die nach eigenen Angaben Frau Milosevic heißt, hat eine lange Geschichte zu erzählen. Sie beginnt in Bosnien. Oder vielmehr in Jugoslawien, denn so hieß das damals gerade noch. Und sie endet, vorläufig, hier auf der geschlossenen Abteilung für Frauen der Psychiatrie in Salzburg. Dazwischen liegen Schauplätze in zahlreichen Ländern Europas , eine Unzahl von Begegnungen mit guten und mit bösen Menschen, Ausweise, die verloren gingen, weil Unterschriften geleistet wurden, die es niemals hätte geben dürfen, eine dramatische Rettung von kleinen Kätzchen vor dem sicheren Tod in Schweden, die spanische Sonne und ein Fußballereignis.
Das Fußballereignis war der damals siebzehnjährige Sohn von Frau Milosevic. Er war gut. Ein echter Profi mit dem Leder. So gut, daß er in der Regionalliga spielte und als Torjäger aufgefallen war. Eines Tages war ein Nordeuropäer angereist gekommen und hatte Nachwuchsspieler gesucht. Frau Milosevic Sohn gefiel ihm, und bald war ein Vertrag unterschrieben. Dieser Vertrag sicherte ihm ein regelmäßiges Einkommen, er durfte in einem echten Fußballklub spielen, aus Jugoslawien ausreisen, sogar seine Familie mitnehmen! Und zwar nach Island. Gut, Island war sicher nicht erste Wahl, das war weit weg und – seien wir uns ehrlich – kein ehrbarer Fußballfan hatte je von einer erwähnenswerten isländischen Mannschaft gehört. Andererseits hatten, wie international nicht unbeachtet geblieben war, manchmal sogar so vernachlässigbar kleine Länder wie die Faröer-Inseln große Fußballnationen wie Österreich vernichtend geschlagen; Und so bestand Hoffnung, und eine Türe in den Westen und in den Wohlstand war plötzlich offen. Alle freuen sich, Koffer werden gepackt, die Reise geplant und die ersten unvertrauten und schwer aussprechbaren Wörter auf Isländisch gelernt. Mutter, Sohn und Tochter begeben sich auf die Reise – ihre erste und einzige Reise, die heute noch andauert und sie durch aller Herren Länder führen wird. Doch zunächst geht es nordwärts. Jugoslawien zerfällt soeben, der Augenblick erscheint günstig, um diesen Ort ungewisser Zukunft zu verlassen. Leider sind dort, wo alte Länder zerfallen, schon neue entstanden, und diese pochen nun in –Form von äußerst unterschiedlich und bunt uniformierten Soldaten – auf ihre Souveränität. Schnell, zu schnell, sind Papiere unterzeichnet, die die Ausreisewilligkeit per Unterschrift beurkunden. Wäre mehr Zeit gewesen, hätte man vielleicht auch das Kleingedruckte gelesen. Dort wäre nämlich erklärt worden, was der automatische Verzicht auf die Staatsbürgerschaft, der mitunterzeichnet wurde, für Konsequenzen hat. Wer hätte gedacht, dass man so schnell staatenlos werden kann und dass einem als Staatenloser einfach das gesamte Geld abgenommen werden kann? Doch was soll’s, die Zukunft liegt anderswo und die Bahntickets wurden nicht abgenommen, auch der inzwischen wertlose Paß durfte behalten werden. Die Grenze zu Österreich und danach zu Deutschland erweist sich als geringes Hindernis. Beide Länder sind als Kultur- und Fußballnationen ihrem Ruf verpflichtet, außerdem scheinen die Papiere in Ordnung zu sein (in der jetzigen Situation kennt sich sowieso niemand aus, welches Land wo liegt oder eben nicht mehr), und überhaupt haben alle gültige Tickets bis Bergen in Norwegen, sodaß (für den Fall, dass es sich doch um „Witschaftsflüchtlinge“ handelt) sie jemandem anderen auf der Tasche liegen würden. Doch schon an der Grenze zu Dänemark, noch lange vor der Zeit vor
Schengen und der EU-weiten Fahndung, ernten sie die ersten misstrauischen Blicke und Fragen der Grenzbeamtem im Zug. Wie auch immer, die Tickets bis Bergen in Norwegen sind bezahlt, sollen doch die dort oben sich drum kümmern, falls etwas nicht passt.
Endlich kommt man in Bergen an, natürlich regnet es, sogar ein paar nasse Schneeflocken fallen. Es ist kalt. Kalt und naß. Das Schiff nach Island ist verspätet, ein Nordseesturm hat es aufgehalten. Mutter und Tochter zweifeln zum ersten Mal daran, dass es eine gute Idee war, den sonnenverwöhnten Süden und die eigene Sprachgemeinschaft einzutauschen gegen das, was sie hier vorfinden: Kälte, Feuchtigkeit und misstrauische Grenzbeamte, die nur norwegisches Kauderwelsch sprechen. Da kann man schon einmal verzweifeln, sich die Haare raufen und vor sich hin schimpfen. Da kann man vielleicht schon mal die Nerven verlieren. Und das könnte vielleicht von einem norwegischen Grenzbeamten mißverstanden werden und Anlaß zu Nachforschungen geben.
Eines ist nämlich klar: Eine schimpfende jugoslawische Frau mit einem kleinen Töchterchen und einem siebzehnjährigen Sohn, der angeblich in Island Fußball spielen möchte, die jetzt ohne ordentlichen Wohnsitz und ohne ordentliche Kenntnisse einer skandinavischen Sprache leichtbekleidet am Hafen herumlungern – das können eigentlich nur illegale Flüchtlinge sein.
Die Umstände gehören jedenfalls geklärt, und der richtige Ort dafür ist ein Flüchtlingsheim. Man klärt alle drei über ihre Rechte auf, es wird ihnen nichts passieren, man will nur ihr Bestes, im Heim hätten sie auch ein Dach über dem Kopf, zu Essen, und trocken und geheizt sei es auch. Allerdings müsse man sie darüber informieren, dass sie, natürlich nur vorläufig, im Heim bleiben müssten. Anders gesagt, sie seien festgenommen. Man sehe von Untersuchungshaft ab, mit Rücksichtnahme auf die Kinder. Sollten sie jedoch einen Fluchtversuch aus dem Heim unternehmen, sehe man sich leider gezwungen, sie in eine Haftanstalt zu überstellen, bis ihr rechtlicher Status geklärt sei. Kurz und gut, die Familie wird ins nächstgelegene Flüchtlingsheim überstellt und bekommt zum ersten Mal seit langem warmes Essen, warme Kleidung und ein Dach überm Kopf. Man gibt sich ja wirklich Mühe, die Situation für alle angenehm zu gestalten.
Das einzige, womit man einfach nicht gerechnet hat: Der Freiheitsdrang und das gesunde Misstrauen eines siebzehnjährigen angehenden Fußballstars, der sich bereits kurz vor dem Schlusspfiff und abgeschoben in die alte Heimat wähnt. Natürlich muß er nun die Initiative ergreifen. Natürlich nimmt er keine Rücksicht auf Verluste. Und natürlich flüchtet er noch in derselben Nacht ohne sich zu verabschieden durch die Hintertür und taucht unter– von ihm wird man erst wieder in einigen Jahren hören.
Mutter und Tochter sind jetzt alleine. Sie erinnern sich an die Drohung, dass man sie in Haft überstellen würde, sollte es zu einem Fluchtversuch kommen, und das war nun zweifellos passiert.
Sie wägen alle Möglichkeiten ab und verlassen das Heim nach dem Frühstück – ebenfalls durch die Hintertür.
Jetzt sind sie endgültig im Untergrund, jetzt sieht man ihre Namen zum ersten Mal in den europaweiten Fahndungsrastern, die sie gnadenlos finden und aufspüren werden, bei jeder Berührung mit Sicherheits- oder Grenzbeamten, bei jeder Übernachtung in einem Hotel, bei jeder Kreditkartenbezahlung oder Bankomattransaktion. Doch das kümmert sie wenig. Den netten Beamten hat man gelernt, aus dem Weg zu gehen und Kreditkarten oder sonst irgendeine Form von elektronischem Geld hatte sowieso noch nie in ihrem Besitz gestanden. Genau genommen besitzen sie überhaupt kein Geld in irgendeiner Form mehr. Und so ist auch kein Gedanken an Hotels oder Pensionen zu verschwenden. In den folgenden Wochen und Monaten lernt Frau Milosevic, sich und ihre Tochter durchzubringen. Es gibt Bahnhofsmissionen, nette Menschen, die Unterschlupf für ein paar Tage gewähren, schlimmstenfalls auch verlassene Hütten im dichten, skandinavischen Wald, Pilze, Heidelbeeren, vielleicht auch manchmal Eier und Milch vom nächsten Bauernhof. Leicht ist das Leben nicht – aber sie kommen durch. Wochen vergehen, manchmal regnet es, die ersten
Herbsttage bringen bittere Kälte mit sich. Es wird klar, dass der norwegische Winter sie vor unüberwindbare Probleme stellen wird – daher muß ein neuer, besserer Ort gefunden werden. Die Reise geht weiter. Wie man ungesehen über Grenzen kommt, ist schnell gelernt. Kopenhagen, Hamburg, Amsterdam – überall finden sich Mittel und Wege, fast überall gibt es zumindest ein paar Menschen, die helfen, ohne große Fragen zu stellen und fast überall gibt es Notschlafstellen für Obdachlose. Doch am besten ist es im Süden. In Spanien findet Frau Milosevic schließlich eine kleine Gemeinschaft von Aussteigern an einem abgelegenen Strand, die sie und ihre jetzt fünfjährige Tochter gerne aufnimmt. Es ist auch im Winter warm genug, um ohne Heizung in einfachen selbstgebauten Strandhütten zu leben, man kann Gemüse anbauen, es gibt einfachste schlecht bezahlte Tagelöhnerarbeit im nahegelegenen Dörfchen und Hafen. Hier sind die Menschen auch am großzügigsten – Frau Milosevic schildert mir, der sich gerade eben staunend diese Lebensgeschichte anhört, mit Tränen in den Augen, wie sehr man ihr dort geholfen habe. Im Vergleich zu allem bisherigen ist es hier paradiesisch. Ein Leben wie bei Robinson Crusoe, oder wie im Kinofilm „The Beach“ (Frau Milosevic fragt mich mit glänzenden Augen, ob ich den gesehen hätte….). Schließlich kommt eines Tages auch noch eine Katze den Strand entlanggelaufen und wird sofort von der kleinen Tochter adoptiert. Die neue Familie erlebt glückliche Tage. Das Essen reicht aus, es ist angenehm warm, das bisschen dazuverdiente Geld ist genug für das Nötigste. Als die Katze plötzlich Mutter von sechs kleinen Kätzchen wird, lässt man diese sogar ordnungsgemäß bei Dr. Mendoza y Gutierrez gegen Katzenschnupfen und Katzen-AIDS impfen und ordentlich entwurmen. Kein europäisches Fahndungsystem hat Alarm geschlagen, niemals hat man Probleme mit Behörden bekommen: Es sieht so aus, als wäre endlich der Platz an der Sonne gefunden und es vergehen ein paar Jahre ohne besondere Ereignisse.
Wäre da nicht der Zeitungsartikel gewesen.
Es war nur eine kleine Nachricht im Sportteil des „Aftonbladet“, das schwedische Touristen am Strand gelassen hatten. Der FC Söderköping hatte gegen den FC Norrköping gewonnen, und zwar 3:0, alle Tore in den letzten 15 Minuten, nachdem ein junger Nachwuchsspieler eingetauscht worden war.
Das hätte nun wirklich niemanden aus den Socken gerissen, wenn nicht da ein Foto des glücklichen Torschützen, der alle drei Tore gemacht hatte, gewesen wäre. Fr. Milosevic erkannte ihn natürlich sofort. Das war ihr Sohn, ihr Goldstück, das Fußballereignis! Er war also doch noch bei einem Fußballklub untergekommen, hatte seinen Weg gemacht, in Schweden, und das war doch sogar besser als diese abgelegene Eisinsel im Atlantik!
Die Entscheidung war schon gefällt, bevor der Artikel zu Ende gelesen war:
Auf nach Schweden!
So packt die Familie wiedereinmal Habseligkeiten. Diesmal ist die Reisegruppe etwas größer, da eine Trennung von den Katzen für die Tochter natürlich nicht denkbar ist. Man reist also zu neunt, nein, zu zehnt, da sich herausstellt, dass die Katzenmutter auch nicht ohne den der Familie bisher nur flüchtig bekannten Katzenvater auswandern will. Mit acht Katzen unauffällig zu reisen ist natürlich schwierig. Zum Glück ist aber inzwischen das Schengen-Abkommen unterschrieben worden und Grenzkontrollen im Schengenraum entfallen. Man kommt durch bereits bekannte Städte, Amsterdam, Hamburg, Kopenhagen: wieder finden sich Bahnhofsmissionen und hier und da nette Menschen, die mit ein paar Euro aushelfen. Schweden kommt näher. Die letzte Hürde ist wiedereinmal ein Schiff: nämlich die Fähre nach Malmö. Frau Milosevic hat kein gutes Gefühl. Mit Schiffen, das war so eine Sache, das war schon einmal schiefgegangen, damals auf dem Weg nach Island.
Sie sollte Recht behalten. Die Familie kommt zwar in Malmö an, wird dort aber sofort von der sehr höflichen, aber doch gnadenlos amtshandelnden Hafenpolizei in Empfang und
Verwahrung genommen. Die Sache sieht schlecht aus. Man befragt sie auf Schwedisch und dann auf Englisch. Ein Dolmetscher wird gerufen. Und ein zweiter. Man glaubt ihnen die Geschichte nicht, weder die echte, noch die falsche, die Frau Milosevic schnell in reiner Notwehr erfindet. Tränen fließen, Frau Milosevic denkt kurz daran, sich die Haare zu raufen und ohrenbetäubend laut um Hilfe zu schreien. Doch dann entsinnt sie sich des Zeitungsartikels, den sie immer noch bei sich hat, nun umgehend zückt und triumphierend über ihrem Kopf schwenkt: „Das ist mein Sohn!“
Plötzlich ist alles anders.
„Das ist Ihr Sohn?“, fragt man sie wieder und wieder und freut sich mit ihr. Schießlich hat der Junge drei Tore geschossen. Jetzt gibt es plötzlich keinen Zweifel mehr , die Familie muß zusammengeführt werden, und außerdem ist man in Schweden ein humanes Land, das immer schon Asyl gewährt hat, wer hätte das je in Frage gestellt? Nun geht alles ganz schnell. Vorläufige Papiere werden ausgestellt, die Adresse des Sohnes ausfindig gemacht, Anträge gestellt und unterschrieben, diesmal hat Frau Milosevic auch das Kleingedruckte gelesen und es war kein Haken zu finden gewesen. Die Sache scheint unter Dach und Fach. Nur noch einige Formalitäten sind abzuwarten, bis dahin könnten alle in der Kantine am Hafen ein Essen bekommen. Davor sollen nur noch die Impfausweise der Katzen abgegeben werden.
Die Kantine serviert heute Fiskeböller, ein schwedisches Nationalgericht. Die spanischen Tapas waren besser, denkt Frau Milosevic. Man wir sich daran gewöhnen müssen, fürchtet sie, aber solange die Familie wieder vereint würde, sei das akzeptabel, denkt sie und runzelt die Stirn. Was ist das jetzt? Sieht man ihr das Missbehagen im Gesicht so stark an, oder warum macht nun der nette Hafenpolizist auf einmal so ein ernstes Gesicht? Nein, es stimmt etwas mit den Katzenpapieren nicht. Genaugenommen mit der Anzahl der Papiere. Sechs Impfausweise bei acht Tieren, da fehlen doch zwei! Welche Katzen seien nun geimpft, welche nicht? Wieso seien die anderen nicht geimpft worden? Habe Frau Milosevic nicht gewusst, dass es hier wie in ganz Europa strenge Bestimmungen gebe und man da wirklich, wirklich keine Ausnahme machen könne? Am Ende könnte ja eine gefährliche Seuche eingeschleppt werden! Man werde die Tiere sofort in Quarantäne nehmen müssen, wahrscheinlich, aber das würde erst später entschieden, müssten sie eingeschläfert werden.
Kinder lernen schnell. Und im Erlernen von Fremdsprachen sind sie schneller als alle anderen. Die inzwischen fast zehnjährige Tochter hat alles mitgehört. Und verstanden. Man möchte ihre geliebten Katzen, die ihr teuer wie Geschwister geworden waren, umbringen!
Kindern reagieren aber auch schnell. Mira, so heißt die Kleine, reißt jetzt den Katzenkorb an sich und läuft zum Hafenbecken. „Wenn ihr das tut, springe ich!“, schreit sie auf astreinem Englisch (wo hat sie das gelernt?). Mutter Milosevic greift aufgrund der dramatischen Entwicklung der Dinge jetzt auf ihren Plan B zurück, rauft sich die Haare und schreit ohrenbetäubend laut um Hilfe.
Der Hafenpolizist ist nun überrascht und völlig hilflos. Damit hat niemand hier gerechnet. Er weiß nicht, was er tun soll – und versucht, schnell einen Kollegen zu holen, am besten man möge doch gleich die Feuerwehr rufen! Mutter und Tochter erkennen ihre Chance, nützen die kurze Szene der Verwirrung und verlassen die Bühne durch die Hintertür – diesmal in Form einer kleinen Nebengasse, die vom Hafen wegführt.
Ihr weiterer Weg führt sie, wieder einmal, über Kopenhagen nach Hamburg. Dort, am frühen Abend bei den netten türkischen Dönerständen am Bahnhofsvorplatz, ereilt Frau Milosevic zum ersten Mal seit dem Aufbruch in Jugoslawien das gesamte und gesammelte Elend der Welt. Alles war schiefgegangen. Niemand könne mehr helfen. Sie habe einen Fehler nach dem anderen gemacht und ihre Kinder und acht unschuldige Katzen mit ins Verderben
gerissen. Spanien und Tapas und Fiskeböller und Island, alles könne ihr gestohlen bleiben, es wäre besser, man hätte sie eingeschläfert , wer würde schon soviel Aufhebens wegen ein paar lächerlicher Impfungen machen! Zuhause, in Bosnien, wäre das nicht passiert. Sie rauft sich die Haare, weint und schreit ein bisschen, aber es reagiert niemand. Schließlich meint der nette Dönerverkäufer, er spendiere ihr noch ein Gratisessen, wenn sie nur aufhöre, sich die Haare zu raufen und seine Kundschaft zu vertreiben – warum sie denn nicht lieber nach Hause ginge, in Bosnien wäre nun eh kein Krieg mehr.
Frau Milosevic überlegt. Sie überlegt ziemlich lange.
Dann steigt sie zusammen mit Tochter und Katzen wieder in den Zug, doch diesmal nicht nach Amsterdam. Heute Abend hat sie beschlossen, wieder nach Hause zu fahren, ganz nach Hause. Hamburg, Hannover, Frankfurt ziehen nachts an ihnen vorüber. In der Früh sind sie in München und haben neuen Mut geschöpft. Es ist wärmer geworden, die Landschaft sieht lieblich und friedlich aus. Eigentlich ist alles nicht so schlimm. Weiter in den Süden fährt jede Stunde ein Zug, man muss sich also nicht beeilen. München ist ganz nett im Sommer. Billige Döner am Bahnhof, ein Spaziergang durch den englischen Garten, man kann hier sogar schwimmen gehen, die Welt sieht schon viel besser aus, die Laune ist wieder bestens. Am späteren Nachmittag geht’s weiter in den Süden.
Inzwischen ist es drei Uhr nachts geworden. Ich habe gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergeht, während mir meine Patientin in der Notaufnahme ihre Lebensgeschichte erzählt – so fasziniert bin ich. Ich überlege, wie viele Menschen in Europa wohl so oder auf ähnliche Weise vagabundierend leben und wie wenig uns allen das bewusst ist. Ein Leben kann an einem Scheidepunkt, so wie bei der „Entdeckung“ des Fußballtalents von Fr. Milosevic Sohn, sehr plötzliche und völlig unerwartete Wendungen nehmen und niemand kann sich wohl in völliger Sicherheit wähnen, dass auch morgen die Welt noch genauso funktioniert wie heute. Wenn Landkarten und Grenzen sich von heute auf morgen ändern, wenn man durch Überlesen des Kleingedruckten staatenlos werden kann, dann ist wohl nichts so sicher und konstant, wie wir uns gerne vormachen.
Es läutet in der Notaufnahme. Endlich ist die Dame vom Jugendamt da, die die kleine Mira mitnehmen soll. Mira hat bis jetzt bei den Nachtschwestern im anderen Zimmer gewartet. Jetzt setzen wir uns alle zusammen, es müssen wieder Papiere unterschrieben werden. Natürlich diesmal alle auf Deutsch, und dies spricht Frau Milosevic nicht. Einen Dolmetsch haben wir auch nicht. Ich versuche also, ihr zumindest von Deutsch auf Englisch zu übersetzen, worum es geht: Nämlich darum, dass sie – vorläufig – die Obsorge für ihre minderjährige Tochter an das Jugendamt übergibt, dass sie diese Einwilligung jederzeit widerrufen kann und…… Plötzlich steht die kleine Mira auf, reißt das Papier an sich und überfliegt es schnell. Offensichtlich kann sie lesen (wo hat sie das eigentlich gelernt? Unterwegs?) und anscheinend versteht sie auch deutsch (die Kleine wird mir jetzt richtig unheimlich!). Sie übersetzt ihrer Mutter den Text (der in schwerverständlichem Amtsdeutsch verfasst ist) ohne jedes Problem und erklärt mir dann, ebenfalls in Deutsch, mit etwas Hamburger Akzent, dass das in Ordnung geht und sie und ihre Mutter einverstanden sind.
Es scheint, als wäre das unstete Leben der kleinen Mira zumindest in punkto Lesen, Verständnis und Fremdsprachen eine viel bessere Schule gewesen als so manchem Gleichaltrigen die österreichische Volksschule. Mira liest und schreibt fehlerlos, und sie beherrscht neben Serbokroatisch fünf weitere Sprachen: Norwegisch, Schwedisch, Spanisch, Deutsch und Französisch. Eine fast erwachsene Person im Körper eines Kindes.
Die Dame vom Jugendamt nimmt Mira mit. Jetzt bin ich mit Frau Milosevic alleine, und sie erzählt mir den letzten Teil ihrer Geschichte, der sie hierher zu mir in die Notaufnahme geführt hat.
Auf der Weiterfahrt von München redet Frau Milosevic mit ihrer Tochter Mira über Bosnien und schildert das Land in bunten, schönen Farben. Mira kennt ihre Heimat nicht mehr. Sie ist skeptisch. Auch Frau Milosevic selbst hat sich an das Reisen gewöhnt. Beide überlegen und wägen alle Für und Wider noch einmal ab. Was, wenn man sich nicht gleich entscheidet? Vielleicht gibt es doch noch andere Lösungen? Andere Orte? Man könnte ja noch einmal über alles schlafen und müsste nichts überstürzen.
Wenn man von Deutschland kommend mit dem Zug in Salzburg einfährt, hat man kurz davor von der Eisenbahnbrücke über die Salzach einen wunderschönen Blick auf die Altstadt. In der Abendsonne leuchtet die Festung rötlich, dahinter glühen Tennen- und Hagengebirge in tiefem Orange. An einem Abend wie heute kann dieser Anblick verzaubern. Und Frau Milosevic war wie verzaubert. Ihr war sofort klar: Hier will ich bleiben. Oft sind schnelle und impulsive Entscheidungen die besten, und ihr Gefühl hatte sie selten betrogen.
Die Familie steigt aus.
Die Luft ist immer noch angenehm warm, die Plakate am Bahnhof, die für die schöne Stadt werben, verheißen wunderbare Zeiten in einem barocken Schmuckstädtchen mit internationalem Flair. Vielleicht war dies ja ein Ort, wo man Ruhe finden könnte!
Und dann passiert etwas Unerwartetes, das nicht so recht zum internationalen Flair passen will.
Frau Milosevic und ihre Tochter werden angepöbelt. Vor Ihnen hat sich ein etwa vierzigjähriger, leicht alkoholisierter Mann aufgebaut und beginnt in einem verbalen Rundumschlag auf alles „Ausländergsindel“ zu schimpfen. Wirtschaftsschmarotzer sind die, und faul und dreckig, die haben nie arbeiten gelernt und alle sollen doch in das Loch zurückkriechen, aus dem sie hergekommen sind! Der Mann hört nicht auf, zu schimpfen. Er droht sogar mit der Faust. Und was machen die anderen Leute am Bahnhof? Die meisten sehen weg. Ein paar betroffene Gesichter. Aber niemand hilft Frau Milosevic.
Sie sieht alle ihre Pläne wie eine Seifenblase zerplatzen. Die kurzfristig wiedererwachte Hoffnung ist dahin. Ihr Kopf ist voll von unnützen Gedanken. Da sind Papiere mit Kleingeschriebenem und Fiskeböller, da ist die Bahnhofsmission in Amsterdam, da schießt ihr Sohn Tore während Doktor Gutierrez y Mendoza Katzen im Hafenbecken von Malmö impft, da bekommt sie eine Umarmung vom Dönerverkäufer in Hamburg und fühlt den spanischen Sand unter ihren Füßen. Ihre Knie werden weich. Sie hat die Erkenntnis, dass ihr Leben zu Ende ist. Hier und jetzt.
Frau Milosevic rauft sich noch ein letztes Mal die Haare und schreit ohrenbetäubend laut. Dann wirft sie sich vor den Zug, der soeben auf Gleis 1 einfährt.
Den Rest der Geschichte kenne ich von der Rettung und der Polizei, die die Selbstmörderin von den Gleisen gekratzt hatte, unverletzt und etwa fünf Meter vor dem Zug, der rechtzeitig stehen geblieben war.
Es wird langsam Morgen. Draußen zwitschern jetzt die ersten Vögel im Park der Psychiatrie.
Ich habe mich schließlich in meinem Dienstzimmer niedergelegt, nachdem ich meiner Patientin eine beruhigende Infusion angehängt und Gute Nacht gewünscht habe. Wie ein Seemann auf seinem Schiff habe auch ich heute in meinem Nachtdienst nichts an Wind und
Wetter ändern können.
Bevor ich einschlafe denke ich noch lange nach.
Ob die Geschichte, die mir heute begegnet ist, wahr ist.
Warum es in Schweden leicht ist, Familien zusammenzuführen und Katzen zu töten, während es in Österreich viel leichter ist, einen Schlafplatz für Katzen als für ein zehnjähriges Mädchen zu finden.
Was Dr. Gutierrez y Mendoza dazu sagen würde.
Dass ich auch keine Fiskeböller mag, aber gern am Strand in Spanien wäre.
Und was ich morgen mit Frau Milosevic reden werde.